M.A.C.Guffin Concepts
 

"Drehbuch: Genial!": CINEMA 2/94 

 
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GENIAL!

Ein Kurzfilm von:

M
ichael Gaßner, Andreas Fahlbusch, Christoph Honegger

 

unter Mitarbeit von
Patricia Corboud und Anke Doepner

 

1. EIN FAHRSTUHL VON AUSSEN INNEN/TAG

Wir sehen das Display eines Fahrstuhls: die Anzeige nähert sich dem "E" und bleibt dort stehen. Düstere Musik schwillt an. Die silbrige Schiebetür des Fahrstuhls öffnet sich mit gespenstischem Zischen. Nebel wabert aus dem Fahrstuhl über den Boden des Korridors. Im Inneren der Kabine steht in starkem Gegenlicht ein Liliputaner, der ehrfürchtig ein Goldfischglas in den Händen hält. Er trägt einen Hausmeisterkittel und eine Schiebermütze. Bedeutungsvoll tippelt er aus dem Fahrstuhl in ein Unterlicht, bis er das Glas bildfüllend vor die Optik hält. Durch das Glas sieht man hinter dem Goldfisch verzerrt das Gesicht des Liliputaners.

2. DAS KARGE SCHLAFZIMMER EINES FILMEMACHERS INNEN/NACHT

Wir sehen vom Fußende her eine Futonmatratze auf dem Boden liegen, mit einem unordentlichen Bett darauf. Über dem Kopfende hängt das Plakat von "A BOUT DE SOUFFLE". Eine archetypische Schreibmaschine steht neben dem Bett, umgeben von zerknülltem Papier. Eine leere Rotweinflasche liegt auf dem Boden, eine Untertasse quillt von Zigarettenstummeln über. Der verstrubbelte Künstler schnellt mit ausdruckslosem Gesicht hoch, auf die Kamera zu. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet, er sortiert offensichtlich seine Gedanken, überdenkt noch einmal das gerade Geträumte und grinst dann verzückt.

 

FILMEMACHER

Ich hab's!

(von sich selbst begeistert)

Genial!

 
3. RATHAUS IN .......... / EINGANGSHALLE INNEN/TAG

In der Halle hängt neben einer schweren und verzierten Eichentür ein nüchternes Schild: FILMKOMMISSION. Wir hören eine Person mit schnellen Schritten die Treppe hocheilen. Die Person bleibt außerhalb des Bildes stehen, atmet schnaufend und sammelt sich. Unser Filmemacher geht von rechts nach links auf die Tür zu. Seine Haare sind trotz Pomade etwas aufgelöst, das altmodische Sakko sitzt schief, unter dem Arm hat er eine abgewetzte Briefmappe. Er zögert kurz und klopft dann entschlossen.

4. RATHAUS IN .......... / SITZUNGSSAAL INNEN/TAG

Wir hören unseren Filmemacher hereinkommen und sehen von unten das Gesicht eines mißgelaunten Kommissionsmitglieds, das sich seiner Nachbarin zuwendet und ihr etwas ins Ohr flüstert. Die Nachricht wird zum nächsten weitergeflüstert. Offensichtlich eine abschätzige Beurteilung des Antragstellers. Die Beurteilung erreicht den Kommissionsvorsitzenden, der am übellaunigsten dreinschaut. Er lehnt sich abwartend zurück und verschränkt die Arme. Von oben: der Filmemacher sitzt auf einem kleinen Schemel und versucht nervös, seine Papiere zu ordnen. Er wirkt winzig vor dem mächtigen und erhöhten Tisch, an dem die Kommission sitzt. Die einzelnen Mitglieder sind korrekt und konservativ gekleidet. Sie sehen nicht aus, als wenn sie von unserem Filmemacher etwas halten würden. Der Künstler wendet sich dem Vorsitzenden zu.

 

FILMEMACHER

Folgende Idee: (hastig) Aus einem Fahrstuhl steigt ein Liliputaner mit einem Goldfischglas in der Hand.

 
Er schaut erwartungsvoll von einem zum anderen. - Keine Reaktion.
 

FILMEMACHER

Und?

VORSITZENDER

Wie - "und"?

 FILMEMACHER

Ja sehen sie denn nicht, was dieses Bild impliziert?! Der Fahrstuhl! Der Liliputaner! Der Goldfisch!

 
Keine Reaktion.
 

FILMEMACHER

(sprudelt los) Die Bedeutung dieses Bildes springt einen doch förmlich an:  (springt auf) der Fisch als Ursprung der Metamorphose des Lebens zum Menschen. Der kleine Mensch, der das Wissen um seine Herkunft in der Hand hält und doch Gefangener der übermächtigen Technologie ist, die uns Hilflose herabzieht auf die niederste Stufe der ewigen Evolution und uns herausspeit in den Nebel der existentiellen Ungewißheit, Ortslosigkeit, Rastlosigkeit, des Daseins schlechthin! Müssen wir nicht verstummen, wie der Fisch im Glase?  Sind wir nicht eigentlich alle Liliputaner?

 
Die Kommissionmitglieder sehen sich verständnislos an. Der Filmemacher bemerkt, daß er nicht die erhoffte Wirkung erzielt und schwenkt um.
 

 FILMEMACHER

Und auf der anderen Seite: der sich öffnende Fahrstuhl, als Metapher für die lebensspendende Urmutter Gaia, die ihren Schoß öffnet, um die menschliche Kreatur aus der Geborgenheit des Fischglases - äh - der Fruchtblase in das strahlende Licht der Welt zu entlassen. Kurz: Ontogenese, Phylogenese, Biogenese ... alles in einem Bild!

 
Der Filmemacher atmet schwer und sieht den Vorsitzenden triumphierend an.
 

 VORSITZENDER
(über den Rand seiner Brille)

Und? 

FILMEMACHER
(verblüfft)

Wie - "und"?

 VORSITZENDER

Ist das alles?

 

Der Filmemacher sieht die Kommissionsbeamten konsterniert an.

 

FILMEMACHER
(automatisch)

NEIN!

 
Er versucht, in den Gesichtern zu lesen, was von ihm erwartet wird, und überlegt fieberhaft. 
 

FILMEMACHER

Äh, ...natürlich nicht! Äh,... (sucht den rettenden Strohhalm)... schon Jean-Luc Godard... 

 
JUMPCUTSEQUENZ: der Filmemacher, der eben noch vor der Kommission stand, geht grübelnd hinter seinem Stuhl hin und her (die kontinuierliche Bewegung wird ebenfalls durch JUMPCUTs gebrochen); der Filmemacher sitzt auf seinem Stuhl und starrt sinnierend an die Decke; er steht an der Tür und kratzt sich am Kopf; er kniet zwischen seinen Papieren auf dem Boden und durchwühlt seine Notizen; er sitzt wieder auf seinem Stuhl, lehnt sich cool zurück und hat sich offensichtlich wieder gefangen.
 

FILMEMACHER

... hat gesagt: die Form schafft den Inhalt - oder war's Rivette? Naja, ist ja auch egal. ICH jedenfalls in meiner Arbeit als Filmemacher habe mich geradezu spezialisiert auf den innovativen Umgang mit dem Material. Insbesondere die von mir entwickelte Technik der BASISCHEN ENTFREMDUNG, die dem ... 

 
(Wir sehen dabei den leicht angetrunkenen Filmemacher in seiner schmuddeligen Küche beim Sichten von Filmmaterial auf einem antiquierten 16mm-Filmbetrachter. Er gießt sich ungeschickt ein Glas Rotwein ein. Beim Abstellen der Flasche kippt er das Glas versehentlich über eine offenstehende Filmdose.  Das Filmbild fängt an auszusehen, als sei es einer Rotweinbehandlung ausgesetzt worden. Die Kommission - ebenfalls fleckig rot - beginnt interessiert zuzuhören.) 
 

FILMEMACHER

... Inhalt die eigentliche spirituelle Dimension verleiht, fordert den Zuschauer heraus, das Gesehene kritisch zu hinterfragen. Durch Verstörung wird die passive Konsumentenhaltung aufgebrochen und der von mir anvisierte Sehschock erzielt.  Auch meine AKRIBISCHE PARTIKULATION bewirkt durch optische...  

 
(Der Filmemacher doziert mit erhobenem Zeigefinger.  Wieder in seiner Küche schrubbt er mit einer alten Wurzelbürste auf verdrilltem Filmmaterial herum und würzt das Arrangement mit dem Inhalt seines Aschenbechers.  Das bis hierhin rot verschmierte Filmbild wirkt ab jetzt, als sei es mit einer alten Wurzelbürste malträtiert worden. Ebenfalls zerkratzt: die Kommission lauscht ergriffen. Bei den schrillen Kratzgeräuschen stehen ihnen kurz die Haare zu Berge.)
 

FILMEMACHER

...Fragmentierung der Emulsion die Transparenz des Mediums und katapultiert das Publikum mental in eine Metaebene seiner eigenen Wahrnehmung.  Als Höhepunkt meines künstlerischen Schaffens verstehe ich die Dekonturierung ... 

 
(Wie durch einen Zerrspiegel betrachtet, verschwimmt das Bild. Der Filmemacher steht wieder in seiner Küche und sieht gespannt auf einen Topf mit brodelndem Wasser. Er nimmt eine große Bratengabel und sieht nach, ob der Film schon gar ist. Der verschwommene Vorsitzende wackelt wirr mit dem Kopf. Dabei rollen die Augen seiner Scherzartikelbrille, die er nur in dieser Einstellung trägt, wild herum. Ein anderes Kommissionsmitglied klappt entgeistert zwei Riesenohren aus.)
  FILMEMACHER

...der geometrischen Form durch HYDROTHERMISCHE TRANSFORMATION. Die unverzichtbare Brechung der Sehgewohnheiten provoziert den Rezipienten, an der Realität zu zweifeln und sein eigenes Dasein in Frage zu stellen.

 

Der Filmemacher beendet siegesgewiß seinen Vortrag. Das Bild entzerrt sich. Die Kommissionsmitglieder blicken skeptisch. Der Filmemacher hebt den Finger.

 

FILMEMACHER

Und jetzt:

 (REISSZOOM auf seinen Mund)

stellen Sie sich MEINE Szene vor!

 
5. EIN FAHRSTUHL VON AUSSEN INNEN/TAG

Auf die Liliputanerszene werden geballt alle eben vorgestellten Verfahren angewandt. Den eigentlichen Inhalt der Szene kann man nur noch erahnen, ein audiovisuelles Feuerwerk wird abgebrannt.

6. RATHAUS IN .......... / SITZUNGSSAAL INNEN/TAG
 

FILMEMACHER (freudig gespannt)

Und?

 
Die Kommission sitzt regungslos da und sieht aus, als würde sie an ihrem Dasein zweifeln. Der Vorsitzende wiegt abschätzend den Kopf hin und her und verarbeitet auf einer Metaebene den erlittenen Sehschock. Er sammelt sich.
 

VORSITZENDER (nickt wohlwollend)

Jaaa...

BEISITZERIN (aufrichtig interessiert)

Wie war das mit dem Fisch?

 
7. RATHAUS IN .......... / KASSENSCHALTER INNEN/TAG

Kling! Eine alte Registrierkasse springt auf, Geldscheine quellen heraus.  Über die Schulter der bebrillten Kassenbeamtin, Marke "resoluter Drachen", sehen wir jemanden abdrehen, der glücklich Scheine zählt. Unser Filmemacher schiebt seine Anweisung unter dem Kassen fensterchen hindurch und wartet gespannt. Hinter ihm steht eine Schlange fast identisch gekleideter Filmemacher, die ebenfalls freudig auf ihre Auszahlungen warten und neugierig die Hälse recken, wieviel wohl der Vordermann erhält.  Die Beamtin stempelt seine Anweisung mit einem fetten "GENIAL!". Man sieht ihr deutlich an, daß sie grundsätzlich anderer Meinung ist. Brummig schiebt sie einen Stapel Tausender durch die Durchreiche.

8. RATHAUS IN .......... / KORRIDOR INNEN/TAG

Fröhlich Scheine zählend schreitet unser Filmemacher durch den Korridor. Als er eine Fahrstuhltür passiert hat, öffnet sich diese und der Hausmeister, ein Liliputaner, kommt heraus. Er hält ein Goldfischglas in Händen. Irritiert sieht er auf den Nebel, der links und rechts aus dem Fahrstuhl wabert. Kopfschüttelnd geht er aus dem Bild.

9. DAS KARGE SCHLAFZIMMER DES FILMEMACHERS INNEN/NACHT

Wir hören den Hausmeister weitertippeln. Wir sehen vom Fußende her eine Futonmatratze auf dem Boden liegen, mit einem unordentlichen Bett darauf ... (wie Szene 2). Wir hören den Hausmeister stolpern und einen kleinen Aufschrei. Es klirrt, als würde ein riesiges Goldfischglas auf dem Boden zerbersten. Unser verstrubbelter Filmemacher schnellt mit ausdruckslosem Gesicht hoch, auf die Kamera zu. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet, er sortiert offensichtlich seine Gedanken, überdenkt noch einmal das gerade Geträumte und grinst dann verzückt.

 

FILMEMACHER

Ich hab's!

 
SCHWARZ/ABSPANN
 



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"Drehbuch: Genial!": CINEMA 2/94